Die Hochschulen in Sachsen-Anhalt 1990 – 2010.
Eine utopische Retrospektive 1)
Anmerkung des Herausgebers: Die von der Frau Ministerpräsidentin
berufene Enquête-Kommission "Hochschulen in der Sächsischen
Union" wird zum 31. 12. 2011 ihren umfassenden Abschlußbericht
vorlegen. Der Vorsitzende der Kommission, Herr Prof. Dr. phil. em. Reinhard
Kreckel, vormals Präsident der Landesrektorenkonferenz von Sachsen-Anhalt,
hat uns freundlicherweise den folgenden Text zum Vorabdruck überlassen,
den er - teilweise aus der Zeitzeugenperspektive - für das Einleitungskapitel
des Kommissionsberichtes verfaßt hat.
Vorbemerkung
Am 11. November 2011 haben die Vereinigten Parlamente von Sachsen, Sachsen-Anhalt
und Niedersachsen sich nach harten Auseinandersetzungen für die goldene
Mitte entschieden und die ehrwürdige Universitätsstadt Halle
zur Landeshauptstadt der Sächsischen Union bestimmt. Meine späte
Genugtuung kann ich, als alter Wahlhallenser, nicht verhehlen. Aber ich
will auch gerne anerkennen, daß es ohne die kluge Unterstützung
durch die benachbarten Universitätsstädte Leipzig und Magdeburg
kaum zu diesem Beschluß gekommen wäre. Für die Hochschulen
des neuen Bundeslandes wird mit dem 1. 1. 2012, wenn das vereinigte unionssächsische
Wissenschaftsministerium seine Arbeit aufnimmt, eine völlig neue Zeit
beginnen.
Die folgenden Abschnitte sollen der historischen Bestandsaufnahme dienen
und zeigen, welche "Erbschaft" die drei alten Bundesländer Sachsen,
Sachsen-Anhalt und Niedersachsen in die neu entstehende unionssächsische
Hochschullandschaft einzubringen haben. Der Umstand, daß die Universitätsstadt
Halle zur Landeshauptstadt erkoren worden ist, ist ein Hinweis auf die Erfolgsgeschichte des Landes Sachsen-Anhalt in den zwei Jahrzehnten
seit der deutschen Vereinigung. Das gilt insbesondere auch für die
Hochschulen von Sachsen-Anhalt, denen ich mich jetzt zuwende.
Neunziger Jahre: Aufhaltsamer Neubeginn
Die Geschichte des Hochschulsystems der DDR und seiner turbulenten Einbeziehung
in die bundesdeutsche Hochschullandschaft ist bekannt. Sie braucht hier
nicht nochmals dargestellt werden. Deshalb möchte ich nur die
"Eröffnungsbilanz" vom Tag der Einheit, die Situation am 3. Oktober
1990 festhalten: Damals gab es in Sachsen-Anhalt eine klassische Universität
(Halle), die Technische Hochschule (bzw. Universität) und die Medizinische
Akademie in Magdeburg, zwei weitere Technische Hochschulen (Köthen,
Merseburg) und eine Landwirtschaftliche Hochschule (Bernburg) sowie zwei
Pädagogische Hochschulen (Halle-Köthen, Magdeburg). An den Hochschulen
des Landes waren insgesamt ca. 18.100 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter
beschäftigt, davon rund 6.000 Wissenschaftler, und es gab 20.600 Studierende.
D.h., die Betreuungsverhältnisse waren hervorragend. Auf einen Wissenschaftler
kamen damals in Sachsen-Anhalt 3,5 Studierende, während das Betreuungsverhältnis
der westdeutschen Universitäten bei etwa 1:14 lag. Die Personalstruktur
an den Hochschulen war schon zu DDR-Zeiten stark aufgebläht, während
für die Infrastruktur, die Geräte- und die Literaturausstattung
kaum Mittel zur Verfügung standen. Der bauliche Zustand der Hochschulen
war, von wenigen Ausnahmen abgesehen, verheerend.
Das heißt, selbst wenn es nicht zu Entlassungen im Zuge der "Abwicklung" systemnaher Bereiche und als Folge von Integritätsprüfungen durch die Personalkommissionen gekommen wäre, hätte die Angleichung
an die in Westdeutschland übliche Personalstruktur unweigerlich zu
Bedarfskündigungen und Einstellungsstops an den Hochschulen führen
müssen.
Umstrukturierung und Neuaufbau: 1990-1995
1995 stand in Sachsen-Anhalt die auch heute noch vorhandene Hochschulstruktur
weitgehend fest: Zwei Landesuniversitäten (Halle, Magdeburg),
eine Kunsthochschule (Halle), vier Fachhochschulen (Anhalt, Harz, Magdeburg, Merseburg). Die Zahl
der Stellen an Hochschulen hatte sich um etwa 5.200 auf insgesamt 12.858
Stellen verringert, davon 4.636 Stellen für wissenschaftliches Personal.
Es gab im Oktober 1995 bereits 27.100 Studierende. Das Betreuungsverhältnis
zwischen Wissenschaftlern und Studenten lag nun bei 1:6.
Hinter diesen Zahlen verbergen sich gegenläufige Entwicklungen.
Gleichzeitig mit dem Ab- und Umbau des alten Hochschulsystems war ein großzügiger
Neuaufbau in Gang gesetzt worden. Den materiellen Rahmen lieferte das von
Bund und Ländern finanzierte Hochschulentwicklungsprogramm (HEP),
das von 1991 bis 1995 ca. 650 Mio. DM nach Sachsen-Anhalt brachte. Hinzu
kam ein hoher Mittelzufluß für Bau- und Sanierungsmaßnahmen,
wissenschaftliche Großgeräte und Bibliotheken aufgrund des Hochschulbaufördergesetzes
(HBFG). Die konzeptionelle und hochschulplanerische Grundlage lieferten
die "Empfehlungen der Hochschulstrukturkommission zur Hochschul- und Wissenschaftsentwicklung
des Landes Sachsen-Anhalt" vom März 1992. Dort waren - neben der bereits
angesprochenen Neugliederung der sieben staatlichen Hochschulen des Landes
- weitere folgenschwere Entscheidungen vorbereitet worden: So bekannte
sich das Land zu zwei voll ausgebauten Medizinischen Fakultäten in
Halle und Magdeburg, ebenso zu zwei ingenieurwissenschaftlichen Universitätsstandorten,
außerdem zu einer Reihe von fachlichen Doppelungen und Überschneidungen.
Man ging dabei von einer Ausbauplanung für 44. 000 Studienplätze
mit einer Personalausstattung von etwa 14.600 Stellen aus, davon 5.441
Stellen für wissenschaftliches Personal. Die Zielgröße
war also eine durchschnittliche Betreuungsrelation von etwa 1:8.
Die Turbulenzen der damaligen Zeit sind allzu schnell vergessen worden.
So erinnere ich mich selbst z.B. noch an den 1. April 1993, als die gesamte
Pädagogische Hochschule Halle-Köthen und Teile der Technischen
Hochschule Leuna-Merseburg auf einen Schlag in die Martin-Luther-Universität
integriert wurden. Außerdem hatte die hallesche Universität
auch das gesamte Personal des Bereiches „Tierproduktion„ der Universität
Leipzig in ihre Landwirtschaftliche Fakultät aufnehmen müssen.
Die Martin-Luther-Universität verfügte auf diese Weise plötzlich
über drei große Verwaltungsstäbe. In einer Reihe
von Fächern (z.B. Chemie, Physik, Mathematik, Pädagogik) wurden
Wissenschaftler aus allen drei Einrichtungen zusammengeführt, was
hier – ebenso wie bei der Landwirtschaft - eine erhebliche personelle Überbesetzung
bewirkte. Gleichzeitig waren Neuberufungen im großen Stil im Gange,
um die Erneuerung der Fächer und Studiengänge voranzubringen.
Die TU Magdeburg wurde durch die Integrtion der Pädagogischen
Hochschule zur Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg. Zwei Fachhochschulen
(Harz und Magdeburg) wurden neu gegründet, zwei weitere (Anhalt und
Merseburg) entstanden aus ehemaligen DDR-Hochschulen. Sie entwickelten
aber auch völlig neue Studienrichtungen. Die Gründung einer fünften
Fachhochschule (Stendal) ist letztlich nicht mehr gelungen.
Damit deutet sich bereits an, daß die teils turbulente, teils
euphorische Umstrukturierungsphase an mindestens drei - vielleicht unvermeidbaren,
aber letztlich doch schädlichen - Schwächen litt:
- Die damaligen Studentenzahlprognosen erwiesen sich
als zu hoch, da die demographischen Veränderungen
der neunziger Jahre noch nicht berücksichtigt werden konnten.
- Angesichts des erheblichen Mittelzuflusses in
den ersten Nachwendejahren (HEP, HBFG usw.) bildeten sich zunächst
keine realistischen Vorstellungen über die tatsächlichen finanziellen
Rahmenbedingungen für die künftige Hochschullandschaft in Sachsen-Anhalt.
- Die Verwaltungen im Wissenschafts- bzw. Kultusministerium
und in den Hochschulen waren nicht eingespielt, die aus dem Westen übernommenen
Regelungen oft ungeeignet, die zu bewältigenden Probleme unbekannt.
Im politischen Bereich kam es in diesen Jahren zu mehrfachen Führungs-
und Regierungswechseln. Eine realistische hochschulpolitische Perspektive
hat sich unter diesen Umständen nicht herausgebildet.
Zunächst wurden diese Schwächen aber von den reichlich
fließenden Mitteln und vom kreativen Schwung der ersten Aufbaujahre
überlagert: Die Studentenzahlen wuchsen, die zahlreichen neuberufenen
Professoren machten sich ans Werk, Drittmittel begannen zu fließen,
die gesamte Infrastruktur wurde saniert, Baumaßnahmen wurden auf
den Weg gebracht. Im Nachhinein wird man sogar sagen können, daß
diejenigen, die damals etwas Neues aufbauten und gründeten, ohne genau
zu wissen, ob es bezahlbar war, die Konturen dessen bestimmt haben, was
wir heute noch schätzen. Bevor die Entwicklung allerdings den positiven
Ausgang nehmen konnte, auf den wir jetzt stolz sind, mußten noch
einige schmerzliche Kurskorrekturen vorgenommen werden.
Phase der Verunsicherung: 1996-2000
Mit dem Auslaufen der HEP-Gelder Ende 1995 wurde es allmählich
spürbar, daß ein unbefangenes "weiter so" nicht mehr möglich
sein würde. Der Kultusminister berief den "Beirat für Wissenschaft
und Forschung", der 1998 zwar einen Bericht erstellte, der aber wegen fehlender
politischer Rahmenvorgaben ins Unverbindliche abglitt.
Der erste ernsthafte Versuch, der Hochschullandschaft von Sachsen-Anhalt
realistischere Konturen zu geben, war das "Gesetz zur Entwicklung der medizinischen
Fachbereiche" vom 6. März 1997. Trotz hoffnungsvoller Anfänge und teilweise
erfolgreicher Umsetzungen geriet dieses Gesetz aber selbst in den Sog,
dem es zu entgehen versucht hatte - in den Sog der immer dramatischer werdenden
Unterfinanzierung der Hochschulen. Deshalb wurde die in dem Gesetz für
die Jahre 1997 bis 2000 zugesicherte Verstetigung der Landesmittel für
die beiden medizinischen Fakultäten in Halle und Magdeburg letztlich
nicht eingehalten.
Insgesamt entwickelten sich die Haushaltsmittel für die Hochschulen
des Landes Sachsen-Anhalt zwischen 1996 und 2000 folgendermaßen:
Mit dem Haushaltsjahr 1998 war somit die Aufbauphase beendet. In den
Jahren 1999 und 2000 erfolgte ein dramatischer finanzieller Einbruch: Die
Fachhochschulen wurden in ihrem Aufbau abrupt gestoppt, die Universitäten
mußten sogar um ihren Substanzerhalt bangen. Die Studienbedingungen
für die mittlerweile 34.000 Studierenden an den Hochschulen begannen
sich zu verschlechtern, freiwerdende Professuren und vor allem wissenschaftliche
Nachwuchsstellen konnten nicht mehr nachbesetzt wurden.
Das Jahr 2000 wurde zum Schlüsseljahr. Es war unverkennbar geworden,
daß die Diskrepanzen zwischen den Planungszielen aus dem Jahr 1992,
den unkoordinierten Aufbauaktivitäten der Folgejahre und den tatsächlich
realisierbaren Möglichkeiten zu groß geworden waren. Krisenverhandlungen
zwischen Landesregierung und Hochschulen führten zunächst zu
keinem Ergebnis. Als dann im Sommer 2000 die Zahlen für den Haushaltsplan
2001 bekannt wurden, die eine erneute Reduktion für die Hochschulen
vorsahen, während gleichzeitig bei den beiden Universitäten die
Zahlungsschwierigkeiten immer größer wurden, boten die Rektoren
an, die Universitäten Halle und Magdeburg dem Kuratel des Finanzministeriums
zu unterstellen. Als sich dort niemand fand, der diese Aufgabe übernehmen
wollte, war der Wendepunkt erreicht: Ein „Dreieckiger Tisch„, an dem das Kultus- und das Finanzministerium,
die Vertreter der mehrheitsbildenden Parteien des Landtages sowie der
Hochschulen beteiligt waren, wurde nach intensiven Verhandlungen, die von
phantasievollen Demonstrationen aller Hochschulmitglieder begleitet wurden,
allmählich zum runden Tisch. Ein konstruktiver Prozeß wurde
in Gang gesetzt, an dessen Ende die seither zurecht berühmt gewordenen
"Merseburger Schiedssprüche" standen. Dieser historische Vorgang soll
nun etwas genauer nachgezeichnet werden.
Die Jahrtausendwende: Vom "Dreieckigen Tisch" zu den Merseburger Schiedssprüchen
Die Ausgangslage der Gespräche am Dreieckigen Tisch, die nach einem
festen Ritual in monatlichen Abständen stattfanden, war eine Dreifrontensituation:
- Die Vertreter der mehrheitsbildenden Parteien zeigten keine Neigung,
sich auf längerfristige Zielplanungen festzulegen. Sie gingen von
dem Verständnis aus, daß hochschulpolitische Fragen bei der
Wählerschaft keine Resonanz hatten und daß die Hochschulhaushalte
eine Verfügungsmasse für künftige Etatkürzungen bleiben
sollten.
- Die Vertreter des Kultus- und des Finanzministeriums waren dagegen
an einer längerfristigen Perspektive durchaus interessiert. Sie hatten
die düsteren Finanzprognosen des Landes vor Augen und sahen auf längere
Sicht ein großes Einsparpotential bei den Hochschulen. Ihr Hauptargument
war, daß der starke Rückgang der Geburtenzahlen nach 1990 bis
zum Jahr 2015 etwa zu einer Halbierung der Zahl der Studierenden aus Sachsen-Anhalt
führen werde. Man sprach von einer Zielzahl von 16 - 17.000 Studierenden
(statt der bisherigen Planzahl von 44.000 Studienplätzen), auf die
die Hochschulen sich "gesundschrumpfen" müßten.
- Die Hochschulen wiesen diese Prognose als unseriös zurück
und betonten, daß der demographisch bedingte Tiefststand von 2015
bereits 2020 wieder ausgeglichen sein werde. Sie ließen ein Gutachten
anfertigen, das empfahl, für das zweite und dritte Jahrzehnt des 21.
Jahrhunderts eine Planungsgröße von 32.000 Studierenden aus
Sachsen-Anhalt zugrunde zu legen und zusätzlich mit einem Netto-Zustrom
von 12 - 15.000 Studienrenden aus bevölkerungsstärkeren Ländern
zu rechnen. Das Hauptargument der Hochschulen war aber, daß die Studentenzahlen
nicht zum Maßstab gemacht werden dürften. Es ginge auch darum,
für die Jugend ein breites Spektrum von Studienfächern im eigenen
Lande bereit zu halten, um sie an der Abwanderung zu hindern. Vor allem
aber müsse, unabhängig von der jeweiligen studentischen Nachfrage,
die Forschung und die Ausbildung des wissenschaftlichen Nachwuchses an
den Hochschulen, insbesondere an den Universitäten, auf hohem Niveau
erhalten werden. Man wolle kein wissenschaftliches Entwicklungsland werden.
Die Diskussion am Dreieckigen Tisch ging über viele Monate ohne
Annäherung dahin. Die einen redeten vom fehlenden Geld, die anderen
vom "Einbruch" der Studentenzahlen, die dritten von der Bedeutung wissenschaftlicher
Forschung und Nachwuchsausbildung. Als es dann im Sommer 2000 zu der bereits
erwähnten Krise kam, traten neue Akteure auf den Plan.
Einer - zunächst noch kleinen - Gruppe von hochschulpolitisch interessierten
Studenten war die Pattsituation am Dreieckigen Tisch leid geworden, und
sie begannen, die Sache selbst in die Hand zu nehmen. Sie organisierten
öffentliche Anhörungen, an denen sich zunehmend auch Eltern,
ehemalige Hochschulabsolventen und engagierte Bürger beteiligten.
Die Aufmerksamkeit der Massenmedien wuchs, und zum ersten Mal wurde das
Internet zu einem wichtigen Forum hochschulpolitischer Selbstorganisation.
So entstand die "Neue Hochschulbewegung". Als "2000er-Bewegung" ist sie
mittlerweile so bekannt und so oft beschrieben worden, daß hier nicht
weiter auf sie eingegangen werden muß.
Das Diskussionsklima an dem nunmehr "Runden Tisch" änderte sich
von da an spürbar. Schnell einigte man sich auf folgende 10 Punkte:
- Richtgröße für das zweite und dritte Jahrzehnt des
21. Jahrhunderts sind 32.000 Studierende aus Sachsen-Anhalt. Zusätzlich
ist mit einem Netto-Zustrom von 12.000 Studierenden aus bevölkerungsreicheren
Bundesländern und dem Ausland zu rechnen.
- Die Hochschulstruktur des Landes bedarf einer nachhaltigen Festigung,
die nicht nur von Studentenzahlen, sondern auch von wissenschaftlichen
Erfordernissen bestimmt wird.
- Dabei muß die Entwicklung der Fachhochschulen, deren primäre
Aufgabe die Lehre ist, stärker an der studentischen Nachfrage ausgerichtet
werden als die Entwicklung der Universitäten, die für die Forschungsinfrastruktur
des Landes unentbehrlich sind.
- Es ist deshalb ein vom Parlament getragenes Landeshochschulkonzept
notwendig, das festlegt, welche Palette von akademischen Disziplinen in
Sachsen-Anhalt vorhanden sein soll und welche Grundausstattung sie erhalten.
- Die Entwicklungsperspektiven der Hochschulen müssen auf die
finanziellen Möglichkeiten des Landes abgestimmt werden.
- Für die kommenden Jahre wird den Hochschulen vom Landtag ein
verläßlicher Finanzrahmen vorgegeben, der es ihnen gestattet,
aus eigener Kraft Strukturanpassungen vorzunehmen.
- Um die Kooperation zwischen den Hochschulen zu ermöglichen und
schädliche Verdrängungswettbewerbe und Rivalitäten zu verhindern,
werden - zunächst für 5 Jahre - die proportionalen Haushaltsanteile
für die Universitäten und für die Fachhochschulen festgeschrieben,
ebenso auch für der beiden Universitäten untereinander.
- Es muß ein Anreizsystem geschaffen werden, daß die Mobilisierung
von Selbstheilungskräften belohnt.
- Man war sich allerdings auch einig, daß man sich über
die Höhe des erforderlichen Finanzrahmens für die kommenden Jahre
nicht einigen konnte.
- Es wurde deshalb ein Schiedsgericht von fünf Weisen aus Politik,
Wirtschaft und Gesellschaft einberufen. Der Vorsitz wurde dem charismatischen
Vertreter der "neuen Hochschulbewegung", dem Studenten Udo Rutschki übertragen.
Das Schiedsgericht tagte dreizehn denkwürdige Tage lang in
Merseburg. Es prüfte und verwarf 19 verschiedene Finanzierungsmodelle
- bis Rutschki, in einer Sitzungspause mit dem Taschenrechner spielend,
die Lösung fand:
In den Jahren 1998, 1999 und 2000 waren den Hochschulen (wie oben in
der Tabelle dargestellt) fortgesetzte Haushaltskürzungen auferlegt
worden - von 754,0 über 702,8 auf 690,5 Mio. DM. Das arithmetische
Mittel dieser drei Haushalte beträgt 715,8 Mio. DM. Genau derselbe
Betrag hatte den Hochschulen aber auch schon im Haushaltsjahr 1997 zur
Verfügung gestanden. Hätte man also schon 1997, so räsonnierte
Rutschki, eine Verstetigung von 715,8 Mio. DM für vier Jahre
festgesetzt, so wären die Gesamtkosten die gleichen gewesen. Man hätte
sich aber viel Ärger erspart und Fehler vermieden.
Mancher mag über diese Zahlenmetaphysik schmunzeln. Aber der Betrag,
den alle akzeptieren konnten, war jetzt gefunden. Die Merseburger Schiedssprüche
konnten verkündet werden. Sie lauteten:
- Beiden Universitäten, der Burg Giebichenstein und den
vier Fachhochschulen wird von 2001 bis 2005 ein jährliches Gesamtbudget
von 715,8 Mio. DM zugewiesen. Inflations- und Tarifausgleiche werden jeweils vorgenommen.
- In den Jahren 2006 - 2010 sollen den Hochschulen insgesamt (zu heutigen Preisen) 5 x 690,5
= 3.452,5 Mio. DM zur Verfügung stehen. Um der ab 2008 erwarteten
längerfristigen Verminderung der Studierendenzahlen gerecht zu werden,
wird der Betrag in degressive Jahresraten aufgeteilt:
2006 710,5 Mio. DM
2007 700,5 Mio. DM
2008 690,5 Mio. DM
2009 680,5 Mio. DM
2010 670,5 Mio. DM
- Die Hochschulhaushalte sind Globalhaushalte. Eingesparte Beträge
sind in das folgende Haushaltsjahr übertragbar.
- Die Haushalte der beiden Universitäten werden in ihrem proportionalen
Anteil auf der Grundlage des Jahresdurchschnitts von 1997 - 2000 festgeschrieben.
Der Haushalt der Burg Giebichenstein wird auf dem Stand von 2000 fixiert.
- Die bereits festgelegte Budgetprogression für die Fachhochschulen
(2000: 140 Mio., 2001: 147 Mio., 2002: 150 Mio.) bleibt erhalten. Anschließend
wird festgeschrieben. Ab 2006 werden auch die Fachhochschulen anteilig
in die Degression einbezogen.
- Die Hochschulen erhalten das Recht, eigene Einnahmen zu erwirtschaften
und unabhängig vom Landeshaushalt für Hochschulzwecke zu verwenden.
- 10% der Haushaltsmittel stehen unter Ministeriumsvorbehalt. Sie
werden freigegeben, wenn bestimmte Leistungsziele erreicht werden, die
in einer Leistungsvereinbarung zwischen dem Ministerium und der
jeweiligen Hochschule festgehalten sind.
Dieses nüchterne Zahlenwerk wirkte Wunder. Es floß in das
vom Landtag verabschiedete Haushaltsgesetz 2001 ein und wurde damit geltendes
Recht, an das sich auch die Haushaltsgesetze in den Folgejahren hielten.
Aber wichtiger war die moralische Wirkung, die von den Merseburger Schiedssprüchen
ausging. Sie hat dazu geführt, daß Hochschulen und Landesregierung
sich gemeinsam an die verantwortungsvolle Aufgabe der nachhaltigen Konsolidierung
der Hochschulen machen konnten, ohne sich in gegenseitige Schuldzuweisungen,
Rivalitäten und Defaitismus flüchten zu müssen.
Selbst die Tatsache, daß die Landesregierung sich in den Jahren 2007
und 2008 gezwungen sieht, den Hochschulen globale Minderausgaben aufzuerlegen
und damit vom Finanzrahmen der Merseburger Schiedssprüche abzuweichen,
hat deren moralische Autorität nicht erschüttert. Der Konsolidierungsprozeß
war zu diesem Zeitpunkt schon so weit vorangekommen, daß derartige
Einbußen klaglos verkraftet werden konnten.
Neuer Realismus: 2001 - 2005
Der neu festgelegte Budgetrahmen hatte sofort erstaunliche Auswirkungen.
Beginnen wir mit einem Blick auf die Fachhochschulen: Sobald dort klar
war, welche Mittel in den kommenden Jahren zur Verfügung stehen würden,
wurden alle unrealistischen Ausbaupläne schnell aufgegeben. Vor allem
war nun der Ehrgeiz gestillt, es den ehemaligen britischen "Polytechnics"
gleichtun zu wollen und Universitätsstatus anzustreben. Man konzentrierte
sich auf Projekte, die mit den vorhandenen Ressourcen zu realisieren
waren.
Zum einen machten die Fachhochschulen nun verstärkt von der Möglichkeit
Gebrauch, zusätzlich zu ihren herkömmlichen Diplomstudiengängen
(die zunehmend als Bachelor-Studiengänge geführt wurden) praxisorientierte
Master-Studiengänge einzurichten. Diese wurden auch von vielen Bachelor-Absolventen
der Universitäten als attraktive Angebote erkannt und brachten
den Fachhochschulen beträchtlichen überregionalen Zulauf.
Zum anderen wurden die Fachhochschulen - ebenso wie auch die Universitäten
- auf dem gebührenträchtigen Fort- und Weiterbildungssektor aktiv.
Diese Einnahmen begannen, ein wichtiger Bestandteil der Hochschulhaushalte
zu werden.
Schließlich hat es bekanntlich in einer Reihe von Fällen
Verlagerungen von Studiengängen von Universitäten an Fachhochschulen
gegeben. In einem - damals heiß diskutierten - Fall ist im Jahr 2004
ein ganzes Studienfach mitsamt vertragsmäßig vereinbarten Budgetanteilen
von der Universität Halle-Wittenberg an die Fachhochschule Merseburg
abgetreten worden.
An den Universitäten Halle und Magdeburg sind mehrere doppelt
angebotene Studienrichtungen nach dem Gegenseitigkeitsprinzip auf einen
Standort konzentriert worden. Leitender Gesichtspunkt war dabei, daß
Sachsen-Anhalt über eine klassische Volluniversität (Halle) und
eine moderne Schwerpunktuniversität mit ausgeprägter Profilbildung
in ausgewählten Bereichen (Magdeburg) verfügen sollte. Beide
Universitäten hatten in den ersten Jahren nach den Merseburger Schiedssprüchen
eine Reihe schmerzlicher Prioritätenentscheidungen zu treffen und
stellten bestimmte Studienfächer ein. Dafür mußten zunächst
erhebliche Mittel eingesetzt werden, bevor ein Spareffekt erreicht werden
konnte, der den Schwerpunktbereichen zu Gute kam.
Teilweise hat dieser Mitteleinsatz aber auch zu erstaunlichen Wirkungen
geführt. So hat ein von der "Abwicklung" bedrohter kleiner Bereich
an der Universität Magdeburg sich zu einem Vorreiter auf dem Gebiet
des Tele-Teaching entwickelt. In Halle ist es, durch die Initiative bedrohter
Bereiche, zu interessanten interdisziplinären Studiengängen gekommen,
die eine starke überregionale Resonanz haben.
Ein wichtiges Kennzeichen dieser Jahre war es, daß zwischen den
beiden Universitäten und zwischen den Fachhochschulen allmählich
eine Atmosphäre der Zusammenarbeit entstand und daß schließlich
auch die Berührungsängste zwischen den beiden Hochschularten
abnahmen.
Den Anfang machten die beiden Medizinischen Fakultäten. Als sie
schließlich eingesehen hatten, daß die Haushaltsmittel, die
das Land ihnen für Forschung, Lehre und Investitionen zur Verfügung
stellen konnte, für zwei komplett ausgestattete Fakultäten einfach
nicht ausreichte, wurde gemeinsam Kassensturz gemacht. Man beschloß,
die Mittel der beiden Fakultäten zu bündeln und für
arbeitsteilig festgelegte Zwecke zu nutzen. Die neue Autobahn, die ICE-Strecke
Magdeburg-Halle und vor allem das günstige Regionalticket der Bundesbahn
machten ein auf einander abgestimmtes Medizinstudium an beiden Fakultäten
möglich, das vom Medizinischen Fakultätenverbund Halle - Magdeburg
(MFHM) koordiniert wurde. Mittlerweile gehört der MFHM zu den drei
forschungsstärksten Standorten der Hochschulmedizin in Deutschland.
In Magdeburg und in Halle kommen auf einen Studienplatz etwa vier Bewerbungen.
Nach dem Vorbild der Medizin ist es dann auch gelungen, die Ingenieurwissenschaften
an den Universitäten und Fachhochschulen zum Ingenieurwissenschaftlichen
Hochschulverbund Sachsen-Anhalt (IHSA) zusammenzufügen. Seither gibt
es eine genau abgestimmte Arbeitsteilung zwischen ingenieurwissenschaftlichen
Fachhochschul- und Universitätsstudiengängen. Deren modulare
Struktur macht Fach- und Ortswechsel, aber auch individuelle zusammengestellte
"Menü-Studiengänge" möglich. Erst kürzlich wurde dem
IHSA dafür die Goldene Palme des VDI für innovative Studiengestaltung
verliehen. Dabei wurde besonders die Tatsache gewürdigt, daß
in Sachsen-Anhalt mehrere Hochschulen bei voller Wahrung ihrer Autonomie
zu einer produktiven Zusammenarbeit gefunden haben.
Die vielleicht wichtigste Neuerung dieser Jahre aber war die Entscheidung
aller Hochschulen, einen bestimmten Teil ihrer Haushaltsmittel für
den gemeinsamen Unterhalt von Interdisziplinären Forschungszentren
(IFZ) bereitszustellen, die von der Landesrektorenkonferenz getragen werden.
Zur Zeit gibt es sechs IFZ in Halle und Merseburg, vier in Magdeburg, je
eines in Köthen und in Wernigerode. Diese Zentren werden nach strengen
Leistungskriterien gegründet und regelmäßig evaluiert.
Sie dienen der Forschung, dem Wissenstransfer und der Nachwuchsqualifikation.
Jedem der Zentren ist ein Graduiertenkolleg zugeordnet. Den Hochschulen
des Landes ist es auf diese Weise gelungen, aus eigener Kraft zehn Exzellenzzentren
zu schaffen, die sich mittlerweile als Drittmittelmagnete erwiesen haben
und sich großer überregionaler Anerkennung erfreuen.
Es mag sein, daß ich diese "Jahre des Realismus", die ja auch
die letzten Jahre vor meiner eigenen Emeritierung gewesen sind, in einem
etwas verklärenden Licht sehe. Vielleicht spielt dabei eine Rolle,
daß ich des alljährlichen Streitrituals um den Landeshaushalt
- mit Krisensitzungen, Katastophenszenarien, Protestdemonstrationen - allmählich
überdrüssig geworden war und mich einfach darüber freute,
daß die Hochschulgremien endlich wieder zu ihrer eigentlichen akademischen
Gestaltungsaufgabe zurückfinden konnten.
Natürlich hat es im Zuge der Um- und Neustrukturierungen damals
auch wütende Abwehrkämpfe und schwierige Prioritätenentscheidungen
gegeben. Aber man konnte doch auch bald erkennen, daß die Hochschulen
wieder zu atmen begannen und ihre kreativen Kräfte neu entfalteten.
Es wurden wieder Nachwuchsstellen besetzt und attraktive Berufungen ausgesprochen.
Das wiegt vieles auf.
Nachhaltige Konsolidierung: 2006 - 2010
Die letzten Jahre, die vor allem von der Diskussion über die Gründung
der Sächsischen Union als vereinigtem Bundesland geprägt waren,
sind noch frisch in unserer Erinnerung. Sie müssen nicht noch einmal
beschrieben werden. Für die Hochschulen in Sachsen-Anhalt waren es
keine spektakulären, aber erfolgreiche Jahre. Sie konnten jetzt ernten,
was in den vorangegangenen schwierigen Jahren vorbereitet worden war.
Nur ein Indiz möchte ich anführen: Nach allen Prognosen wäre
in den Hochschulen von Sachsen-Anhalt vom Jahr 2008 an ein deutlicher Rückgang
der Studierendenzahl zu erwarten gewesen. Davon ist aber bis heute nichts
zu spüren. Im zur Zeit laufenden Wintersemester 2011/2012 sind an
den Hochschulen Sachsen-Anhalts 53.000 Studierende immatrikuliert. Etwa
die Hälfte kam aus anderen Bundesländern, ungefähr 12 %
aus dem Ausland. Die Universitäten - und sicherlich auch die Städte
Halle und Magdeburg - sind besonders für Berliner Studierende immer
attraktiver geworden. Als erfolgreiche Forschungsuniversitäten sind
sie ein Magnet für Nachwuchswissenschaftler und Doktoranden.
Seit die Hochschulen das Recht erhalten haben, ihre Studierenden
nach Leistungskriterien auszuwählen, wird erkennbar, daß Halle
und Magdeburg in vielen Fachgebieten zu den gefragtesten Universitäten
in Deutschland gehören. Auch unsere Fachhochschulen müssen über
mangelnde Attraktivität nicht klagen. Die Hochschule für Kunst
und Design Burg Giebichenstein ist sogar eine der besten in Deutschland.
In der neuen Sächsischen Union werden sie alle gewiß ihren Weg
machen. Man kann ihnen - und der gesamten Hochschullandschaft im neuen
Bundesland - nur wünschen, daß der erstaunliche Konsolidierungsprozeß
der Hochschulen in Sachsen-Anhalt Maßstäbe für die künftige
unionssächsische Hochschulpolitik setzen wird.
Kürzlich hatte ich einen Albtraum. Er spielte in meiner alten Alma
Mater in Halle, die beklemmend aussah: Viele Universitätsgebäude
waren verschlossen. Andere waren schon wieder genauso verschlissen wie
damals 1991, als ich sie zum ersten Male sah. Die Studenten fehlten, die
Professoren und Assistenten waren alle uralt, überall herrschte Mangel.
Und der Rektor stritt sich wieder mit dem Kultusminister und den Landtagsabgeordneten
über den Haushalt des nächsten Jahres. Da wachte ich schweißgebadet
auf.
Mir fällt es jetzt manchmal etwas schwer, zwischen Wachen und Träumen
klar zu unterscheiden. Deshalb bitte ich Sie, verehrte Leser, dies an meiner
Stelle zu tun.
1) Beitrag für : Rannenberg, J./Wolf, J. (Hrsg.), Jahrbuch 2000. Politik und Gesellschft in Sachsen-Anhalt. Mitteldeutscher Verlag, Halle 2000.
Literatur:
Buck-Bechler, Gertraude; Schaefer, Hans-Dieter; Wagemann, Carl-Helmut
(Hrsg.), Hochschulen in den neuen Ländern der Bundesrepublik Deutschland,
Weinheim 1997.
Bundesminister für Bildung und Wissenschaft (Hrsg.), Erneuerungsprogramm
für Hochschule und Forschung in den neuen Ländern, Bonn 1991.
Kocka, Jürgen; Mayntz, Renate (Hrsg.), Wissenschaft und Wiedervereinigung,
Berlin 1998.
Kreckel, Reinhard, Anstöße zur Hochschulreform in Sachsen-Anhalt,
Halle 1997.
Kreckel, Reinhard (Hrsg.), Empfehlungen zur Entwicklung der Hochschulen
in der Sächsischen Union. Bericht der Enquête-Kommission, Gräfenhainichen
2012.
Kultusministerium des Landes Sachsen-Anhalt (Hrsg.), Bericht des Beirates
für Wissenschaft und Forschung, Magdeburg 1998.
Mayntz, Renate (Hrsg.), Aufbau und Reform von oben. Ostdeutsche Universitäten
im Transformationsprozeß, Frankfurt/M. - New York 1994.
Ministerium für Wissenschaft und Forschung des Landes Sachsen-Anhalt
(Hrsg.), Empfehlungen der Hochschulstrukturkommission zur Hochschul- und
Wissenschaftsentwicklung des Landes Sachsen-Anhalt, Magdeburg 1992.
Prof. Dr. Reinhard Kreckel, 24.11.1999
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